Liebes Forum,
jetzt haben alle ihr Thema: Politiker, Gewerkschaftsfunktionäre,
Journalisten, hochrangige Polizisten, aber auch Terror- und sonstige
Sicherheitsexperten teilen übers Fernsehen und Zeitungen mit, dass es
erstens am Münchner Flughafen eklatante Sicherheitslücken gibt und
zweitens deshalb die Terrorgefahr sehr hoch sei. Ein Bundesminister
erklärt diese Sicherheitslücke sogar zur Chefsache.
Solche Äußerungen haben Folgen: Die „verantwortliche“ Kontrolleurin
wird vorerst vom Dienst suspendiert. Aufgrund ihrer Nachlässigkeit
sei ein Terrorverdächtiger am Münchner Flughafen verschwunden -
ein mysteriöser Mister X, von dem die Öffentlichkeit trotz bester Fotos
der Überwachungskamera nur soviel erfahren darf, dass er ungefähr
50 Jahre alt ist, graues Haar hat und schlecht Englisch spricht:
Diese Beschreibung trifft voll auf mich zu, ich war es aber nicht.
Was war passiert?
Ein unbekannter Mann nimmt am Ende der Sicherheitskontrolle
seinen Laptop und geht davon. Vorher wurde er kontrolliert. Es wurde
ein Abstrich von seinem Laptop genommen. Dieser Abstrich wurde
zum Analysegerät gebracht. Dieses steht etwas entfernt von seiner
Sicherheitskontrolle. Während der Analyse zieht Mister X seinen Mantel
an, nimmt dann seinen Laptop und geht Richtung Pier - nicht fluchtartig
(wie noch Tag danach noch von hoher Stelle behauptet wird), sondern er
geht in einem ganz normalen Tempo: Er rennt nicht, er geht einfach dahin.
Diese Szene soll eine Sicherheitskamera aufgezeichnet haben.
Nach einem Zeitabschnitt folgt ihm die besagte Kontrolleurin. Grund:
Die Überprüfung war nicht beendet, denn die Analyse hat ergeben, dass
der Laptop möglicherweise Sprengstoff enthält (eine Fehldiagnose, sie
passiert allein in München rund 10 mal täglich, denn die Analysegeräte
sind leider sehr ungenau und verwechseln oft gefährlichen Sprengstoff
mit wohlriechendem Parfum).
Die Kontrolleurin folgt ihm also. Die Kameras sehen noch Mister X.
Die Kontrolleurin verliert ihn aber aus den Augen. Ihre Augen sind im Kopf
und hängen nicht wie die Kameras an einer hohen Decke, wo man natürlich
den besseren Überblick hat. Trotzdem: Sie hätte ihn aber nicht aus den Augen
verlieren dürfen, sagt eine Vorschrift. Sie wird deshalb vom Dienst suspendiert.
Die Kontrolleurin findet Mister X also nicht mehr und berät sich deshalb mit
Kollegen, was nun zu tun sei. Alarm auslösen, sagt die Vorschrift. Es wird Alarm
ausgelöst, 10 Minuten nach der Sicherheitskontrolle von Mister X. Die über-
geordnete Stelle und die Bundespolizei sind also informiert. Nach weiteren
20 Minuten wird von dort die Suche nach Mister X und die Evakuierung des
Terminals ausgelöst. Solange braucht man hier, um zu entscheiden, was zu
tun ist. Von dem unbekannten Mann wird oben genannte Beschreibung heraus-
gegeben. Mit dieser Beschreibung machen sich Beamte und Suchhunde auf
den Weg. Sie suchen einen Mann mit grauem Haar, ungefähr 50 Jahre alt, der
schlecht Englisch spricht. Die Suchhunde sollen nach Sprengstoff schnüffeln.
Es ist bereits mehr als eine halbe Stunde vergangen, nachdem die Kontrolleurin
Alarm ausgelöst hatte. Noch immer starten Flugzeuge. 45 Maschinen waren es seitdem,
schreibt heute die Süddeutschen Zeitung. Passagiere, die nicht mehr starten konnten,
wurden wieder dem öffentlichen Bereich zugeführt. Es sollen 7.000 gewesen sein. An den
Ausgängen zum öffentlichen Bereich stehen Polizisten. Sie halten unter den tausenden
Passagieren Ausschau nach Mister X: Graues Haar. Ungefähr 50 Jahre alt. Schlecht Englisch
sprechend.
Die Nachricht von der Evakuierung macht in den Medien die Runde. Zwei Stunden nach dem
ersten Alarm weiß die Republik Bescheid. Die Reaktionen von Politikern, Gewerkschaftern,
Lobbyisten und sonstigen Sicherheitsexperten kommt schnell: Schon in den Abendnachrichten
höre ich von ersten Politikern, dass nun der erhöhten Terrorgefahr entschieden begegnet werden
muss. War Mister X also ein Terrorist? Auf fast allen Fernsehsendern sehe und höre ich Umfragen
unter den betroffene Passagiere, die sich zur Evakuierung äußern: Man habe gehört, dass es um
die Fahndung nach einem Terroristen gehe, sagt da ein junger Geschäftsmann.
Schon am nächsten Tag lese ich, dass die Schuldige identifiziert worden sei: Diese nachlässige
Kontrolleurin wird natürlich suspendiert, teilt ein Verantwortlicher mit. Sie hätte den verdächtigen
Mann nicht aus den Augen lassen dürfen, lese ich in der Zeitung. Das sei in einer Vorschrift eindeutig
geregelt. Ich lese auch, dass nach dem Mann mit dem gefährlichen Laptop immer noch fieberhaft
gefahndet wird – sogar in Madrid, denn dorthin soll er geflogen sein. Aber da hat man ihn nicht
gefunden.
Es melden sich in den Medien immer mehr Befürworter des nackten Körperscanners zu Wort.
Damit sei mehr Sicherheit möglich. Doch in München war es nicht ein Mensch, sondern ein Laptop,
sprengstoffverdächtig gewesen sein soll. Wo bringt da ein Körperscanner mehr Sicherheit? Genau dies
muss sich auch ein bekannter Politiker gedacht haben. Er schlug vorgestern vor, jeden Passagier
vor der Sicherheitskontrolle zu registrieren – und zwar anhand des Boardingpasses. Ein Parteikollege
dieses Politikers hat heute nachgelegt: Vor der Sicherheitskontrolle soll jeder Passagier entweder
per Personalausweis oder per Pass registriert werden, das sei noch sicherer.
Doch seit heute Nachmittag bin ich in der Sache „Sicherheitslücke am Flughafen München“ wieder beruhigt
- zumindest was die sehr schnell kritisierte Kontrolleurin betrifft. Die Kontrolleurin, die von Politikern und
sonstigen Sicherheitsexperten vorverurteilt wurde, ist nun nicht mehr suspendiert, sondern nur noch
freigestellt (was ungefähr das selbe ist). Sie habe sich vorbildhaft verhalten, lese ich heute in der
Süddeutschen Zeitung. Sie müsse jetzt alles seelisch verkraften, was da passiert sei. Und das ist gewiss
nicht einfach. Schließlich haben sich ein Bundesminister, mehrere Politiker, viele Experten und eine Boulevard-
zeitung vorschnell zumFall geäußert – und zwar ohne genau recherchiert zu haben und ohne über die
tatsächlichen Gegebenheiten Bescheid zu wissen.
Heute steht in der Süddeutschen, Münchner Teil: Nach genauer Überprüfung der Sicherheitsvideos habe
sich ergeben, dass gegen Unbekannt (Mister X) kein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird, da es sich
vermutlich um einen Fehlalarm handelt. Man warte nur noch das Ergebnis des Sachverständigen ab,
der den genommenen Abstrich am Laptop untersucht. Über diesen letzten Satz bin ich aber gestolpert.
Wie lange braucht man eigentlich, um festzustellen, ob es sich nun um Sprengstoff gehandelt haben
könnte oder nicht. Offensichtlich lange. Wir werden das Ergebnis des Sachverständigen irgendwann mal
durch eine Zeitung erfahren. Das hat Zeit: Die Terrorgeschichte und die Evakuierung von Terminal II
war ja erst vor ein paar Tagen...